und andere Erzaehlungen

Pilgerfahrt nach Linz

Eines Tages erhielt Stifter in Linz eine Zuschrift folgenden Inhalts:

"Mein Herr!

Am 16. April d. J., nachmittags 3 Uhr, wird im Restaurant des Hotels zum Erzherzog Karl in Linz ein Mann sitzen, der mit Ihnen ein Glas Wein trinken will. Er reist zu diesem Zweck dahin und bittet Sie, sich zu genannter Stunde im genannten Lokale einfinden zu wollen.

Amsterdam, 3. April 186.... John Benotts."

Stifter war von diesem Schreiben nicht wenig überrascht. Er hatte keinen Bekannten namens Benotts und konnte sich auch nicht denken, wem es in Amsterdam einfallen sollte, nach Linz an der Donau zu reisen, um dort mit einem ihm fremden Manne ein Glas Wein zu trinken.

Der Dichter, der in nächster Nähe des Hotels wohnte, ging zur bestellten Zeit in das Restaurant. Das Lokal war fast leer. An einem Tisch saßen zwei alte Linzer Bürger. Am Ofen hockte ein alter Mann, der sich seinen Mantel trocknete. Stifter setzte sich an einen kleinen Tisch und fragte den Kellner, ob nicht ein Fremder aus Amsterdam im Hotel abgestiegen sei. Man wußte von nichts.

Es war 3 Uhr geworden. Stifter fiel es auf, daß der alte Mann am Ofen unruhig wurde und aufgeregt zur Türe blickte, so oft sich diese öffnete. Endlich erhob sich der Alte. Er war ein gebückter, kränklich aussehender Mann mit langen grauen Haaren und zwei Strängen Backenbart, die seinem Aussehen etwas von einem Engländer verliehen. Hinkend, als wäre ihm am Ofen ein Fuß steif geworden, trat er zum Kellner, wechselte mit ihm einige Worte, worauf dieser nach dem Tische deutete, wo Stifter saß. Der Alte nahte sich diesem zögernd, blieb dann unbeweglich davor stehen und starrte den Dichter an.

"Sind Sie es?" fragte er dann mit fremdartiger Betonung. "Sie sind der Dichter der 'Studien'?"

"Ich heiße Adalbert Stifter", antwortete der Dichter.

"Ich danke Ihnen", sagte der Fremde. "Ich bin John Benotts aus Amsterdam". Damit setzte er sich Stifter gegenüber an den Tisch.

Dieser wußte nicht recht, was er sagen sollte und schwieg.

Der Fremde sagte auch nichts weiter als: "Welchen Wein trinken Sie gern?"

"Rheinwein", antwortete der Dichter.

Der Fremde bestellte. Dann saß er Stifter schweigend gegenüber und betrachtete dessen Gesichtszüge. Als der Wein kam, schenkte der Holländer die Römer voll, stieß mit dem Dichter schweigend an und sie tranken. So verging eine habe Stunde, ohne daß sie bisher mehr als zwanzig Worte mitsammen gesprochen hatten. Als die Flasche leer war, erhob sich der Fremde und sagte mit leiser Stimme: "Ich hätte eine Bitte. "Sprecht sie aus!" sagte Stifter.

Der Fremde stand eine Weile schweigend da, dann sagte er: "Adalbert Stifter! Gebt Ihr es zu, daß ich Euch auf die Stirne küsse?"

Nun erhob sich auch Stifter und sprach: "Die Stirne des Menschen ist von Gott geweiht. Küsset sie!"

Jetzt legte der Fremde seinen Arm langsam und leicht über die Schulter des Dichters, neigte sich hin und küßte dessen Stirne. Als das geschehen war, sagte er noch: "Ich danke Euch, Adalbert Stifter, für alles Glück, das Ihr mir gegeben habt. Lebet wohl!"

Nach diesen Worten ging er, bestieg seinen vor dem Hotel bereitstehenden Wagen und fuhr zum Bahnhof. Stifter war von der Begegnung tief beeindruckt und schritt still seiner Wohnung zu.

Einige Wochen später erhielt er folgende Schreiben:

"Mein teuerer Dichter!

Der Mann v. 16. April wird Ihnen sonderbar erschienen sein. Derselbe hat Ihre 'Studien' gelesen und ist von diesen Dichtungen so oft und so tief ergriffen worden, daß allmählich in ihm der unbezähmbare Wunsch entstand, einmal die begnadete Stirn des Dichters zu küssen. Darum reisete er nach dem fernen Österreich auf geradem Wege hin und auf geradem Wege zurück, ohne Aufenthalt, ohne anderen Zweck als den, Ihnen seinen großen Dank anzuzeigen. So ist es geschehen und ich bin nun wieder in meinem Hause. Die Pilgerfahrt zu meinem Dichter der 'Studien' zählt zu dem wenig Schönen, was ich in diesem Leben getan habe. Adalbert Stifter! Segne Sie der Himmel für alle Wohltat, die Sie durch Ihre Dichtungen den Menschen erwiesen haben und erweisen werden.

Amsterdam, 4. Mai 186.... John Benotts."

Seit dieser zeit hatte Stifter nichts mehr von dem Verehrer aus Holland gehört. Wenige Tage vor seinem Tode soll der Dichter noch die Äußerung getan haben, daß von allen Huldigungen, die ihm je zuteil geworden, ihn keine so eigentümlich und tief bewegt habe, wie die des Holländers John Benotts.

Die drei Schmiede ihres Schicksals
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_0.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_1.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_2.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_3.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_4.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_5.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_6.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_7.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_8.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_9.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_10.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_11.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_12.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_13.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_14.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_15.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_16.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_17.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_18.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_19.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_20.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_21.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_22.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_23.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_24.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_25.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_26.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_27.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_28.html
Die drei Schmiede ihres Schicksals_split_29.html